2020 Popfest im Ausnahmezustand
Grinser, Glück und Gänsehaut: Der frühe Abend des 3. Oktober 2015 bescherte mir einen intensiven Moment im Zeichen der drei „G“. Auf dem Wiener Heldenplatz hatten sich über hunderttausend Menschen zur Abschlusskundgebung der „Voices for Refugees“-Demonstration eingefunden, nach dem Sommer der großen Fluchtbewegung war die Stimmung noch von Hilfsbereitschaft, Solidarität und Verständnis geprägt.
Die nachmittägliche Demo endete mit Konzerten, noch vor Sonnenuntergang trat, irgendwo zwischen Konstantin Wecker und Conchita Wurst, auch Anja Plaschg alias Soap&Skin auf.
Mein Erstkontakt war allerdings noch von massivem Unbehagen geprägt: Gerade einmal 17-jährig spielte Soap&Skin am 5. Juni 2007 ihr erstes größer aufgezogenes Wienkonzert. Bei freiem Eintritt, im Museum für angewandte Kunst. Das Ergebnis: viele Menschen, viel Unruhe und eine verunsicherte Musikerin, die mitten im Konzert von der Bühne flüchtet. Ich fühlte mich unwohl, als Voyeur, und ging ihr bis zum Dezember des nächsten Jahres lieber aus dem Weg. Da trat Plaschg als Schauspielerin im Stück „Nico – Sphinx aus Eis“ im Brut im Künstlerhaus auf und sang bei dieser Gelegenheit auch ihr eigenes Lied „Spiracle“. Für den Bruchteil einer Sekunde wendete sie sich während der Darbietung vom Mikrofon ab und schrie; ein Fixbestandteil des Songs, der live noch weit eindringlicher ist als in der Studioversion. Unverstärkt, aber mit derartiger Kraft, dass der ganze Saal erschüttert zurückblieb. Nicht nur ich habe in diesem Moment mein Herz an die Künstlerin Soap&Skin verloren. Ihr wenige Monate später nach akribischer Vorbereitung endlich in die Welt entlassenes Debütalbum „Lovetune For Vacuum“ geriet zum Triumph, ebenso alles weitere, was sie in der Folge machen sollte. Eigene Songs, Theatermusik, Auftritte in Filmen, David-Bowie-Interpretationen in Hochkulturtempeln. Mittendrin als tragischer Höhepunkt „Vater“, Plaschgs einziges deutschsprachiges Lied, ein Requiem für ihren plötzlich und unerwartet verstorbenen Vater (enthalten auf dem 2012 veröffentlichten zweiten Album „Narrow“). Wer sich Soap&Skin lieber vorsichtig nähern möchte: Sie beherrscht auch die hohe Kunst, fremde Lieder zu ihren eigenen zu machen, „Homeless“ ist dafür nur ein Beispiel unter vielen. Suchen Sie im Internet etwa, um bewusst keine als cool geltenden Vorlagen zu nennen, nach ihrer Coverversion von „She's Crazy“, das im Original von der Kelly Family stammt. Oder, zuletzt im Corona-Shutdown als kleiner Trostspender veröffentlicht, „What's Going On?“ von 4 Non Blondes, einer weiteren Band aus Plaschgs Kindheit, die sich auf kaum einer Hipsterliste finden dürfte.